Denken Bürger:innen an die deutsche Verwaltung, so wandern bei ihnen oftmals die Gedanken zu den Stereotypen: hohes Beamtendeutsch, stapelweise Formulare und Aktenordner, oder eine endlose Flut an Protokollen und Vorschriften. Ist das Verwaltungskultur? Und wie viel von dem Klischee stimmt eigentlich?
Mit diesen Fragen wollen wir uns auseinandersetzen, um eine klare Antwort darauf zu geben, welche Verwaltungskulturen in der Moderne notwendig sind, und welche noch zeitgemäß. In unserer Recherche haben wir Interviews unter Anderem mit Frau Sandra Baumholz (Leiterin Stabsstelle strategische Planung, digitale Transformation und Innovation LHS Stuttgart), als auch mit Frau Jennifer Collet (stv. Regierungssprecherin im Saarland) geführt, die sich bereit erklärt haben, um mit uns über Ihre langjährigen Erfahrungen mit dem Thema Verwaltungskultur zu sprechen.
Wann ist etwas „Verwaltungskultur“?
Einfach definiert bezeichnet der Begriff Verwaltungskultur Wahrnehmungs-, Deutungs-, und Verhaltensmuster von öffentlich Bediensteten. Laut Sandra Baumholz bedeutet Verwaltungskultur, wie man das Mindset der Verwaltung tagtäglich lebt – und dass der Begriff eng mit Bürokratie verbunden sei. Für diesen Beitrag definieren wir somit Verwaltungskultur als für die Verwaltung geltende Eigenheiten und Kuriositäten, mit denen sich alle Bediensteten tagtäglich auseinandersetzen. Natürlich gilt dabei zu beachten, dass die Kultur von Amt zu Amt variieren kann, und dass diese Aufzählung keine abschließende Liste bildet oder Verwaltungskultur ganzheitlich umfassen kann, sondern eher eine Untersuchung der Vielfalt der Verwaltungskultur darstellt.
Unsere Top 5 Beispiele für Verwaltungskultur
1. Der offizielle Dienstweg: Unter dem offiziellen Dienstweg versteht man, dass Informationen und Dokumente immer an eine nächste Ansprechperson entlang der geltenden Vorschriften, Geschäftsordnungen und Regularien wandern sollen. Hiermit soll zum Einen sichergestellt werden, dass Informationen einen geregelten kontrollierten Laufweg nehmen, zum Anderen soll jedoch auch die Rechtssicherheit durch die geregelte Einbindung aller relevanten Ansprechpersonen gesichert werden. Jennifer Collet (stv. Regierungssprecherin im Saarland) erzählte uns hierzu, dass die Nichteinhaltung des Dienstweges zu großem Gegenwind führen kann: Sie berichtete uns, dass Sie zu Beginn Ihrer Karriere den Dienstweg einmal überging, und eine Email zurück erhielt mit dem einzigen Inhalt: “BITTE BEACHTEN SIE DEN DIENSTWEG.” – in Schriftgröße 56.
2. Besondere Abkürzungen: “Der Antrag ist beim EBM i.A., und 66 und 62 sind auch schon informiert“. So mancher Satz stößt für Außenstehende, Quereinsteiger:innen oder Neuangestellte auf Verwirrung. In deutschen Verwaltungen kann ein solcher Satz häufig fallen, da im Verwaltungsfachjargon häufig für Normalbürger:innen unbekannte Abkürzungen verwendet werden. Neben der Zeitersparnis, welche durch die Verwendung von Abkürzungen entsteht, ist Fachjargon auch in der Privatwirtschaft vorhanden – und sorgt auch dort für Verwirrung. Trotz der Eingewöhnungsphase handelt es sich um eine positiv behaftete Eigenheit, die sich über lange Zeit eingebürgert hat und nun ein eigenes Stück Verwaltungskultur darstellt. In unserem Beispiel steht EBM für erste:r Bürgermeister:in, i.A. für In Auftrag oder in Arbeit und 66 und 62 dienen als interne Nummerierungen für verschiedene Ämter.
3. Vorschriften und Protokolle: In der öffentlichen Verwaltung gibt es für nahezu alle Vorgänge detaillierte Prozessprotokolle, an die es sich genau zu halten gilt. Als Beispiel nannte uns Frau Baumholz eine Basisschulung zum Internet für neue Mitarbeitende, die seit ca. 20 Jahren verpflichtend war. In dieser Schulung mussten unter Anderem verschiedene Unterschriften von diversen Akteuren gesammelt werden. Kein einzelner Akteur in der Prozesskette hatte jedoch nach 20 Jahren mehr den Überblick über den gesamten Prozesses – und es traute sich lange niemand, den Prozess zu ändern oder zu überarbeiten. Frau Baumholz setzte sich dafür ein, dass der Prozess in der Zwischenzeit automatisiert wurde – obwohl es durchaus zur Debatte stehen dürfte, ob eine solche Schulung überhaupt noch zeitgemäß ist. Dennoch zeigt dieses Beispiel, wie Prozesse und Vorschriften sich einbürgern können, teils lange über ihr praktisches Fälligkeitsdatum hinweg.
4. Die Farbenlehre: Die Farbenlehre ist ein in manchen deutschen Ämtern und Ministerien in der Geschäftsordnung geregeltes Vorgehen, bei dem Anmerkungen und Unterschriften auf Dokumente in verschiedenen Farben anzufertigen sind, die nach Rang und Stelle der unterschreibenden Person variieren. Solche Regelungen gibt es nicht überall und sind, sollte es sie geben, in einer Geschäftsordnung (GO) klar festgelegt. In unserem Interview mit Jennifer Collet nannte Sie uns als Beispiel, dass im Saarland beispielsweise grün für die Ministerpräsidentin, rot für den Chef der Staatskanzlei bzw. die Staatssekretäre, lila für die Abteilungsleiter und schwarz und blau für alle anderen Mitarbeiter:innen verwendet wird. Dies dient dazu, dass die einzelnen Anmerkungen besser zugeordnet und auch in ihrer Wichtigkeit abgestuft werden können. Somit trägt die Farbenlehre durchaus dazu bei, den internen Prozess zu beschleunigen.
5. Das Eingangspostfach: In vielen Geschichten kommt selbstverständlich das Eingangspostfach vor: der (Metall-)Kasten im Büro oder an der Bürotür, der der internen Weitergabe von Dokumenten und Briefen dient. Sandra Baumholz berichtete, dass in der Vergangenheit das Eingangspostfach oft zu Verzögerungen führte, vor Allem in jenen Fällen, in denen mehrere Personen ein physisches Dokument unterzeichnen mussten. In diesen Szenarien war es nicht unüblich, dass ein Dokument über eine längere Zeit in einem Eingangspostfach lag – dessen Eigentümer:in jedoch im Urlaub war. Diese „asynchrone“ Bearbeitung führte zu Intransparenz über den genauen Aufenthalt des Dokuments, wodurch Verzögerungen entstanden sind.
Was kann weg, was muss bleiben?
Betrachtet man nun diese Beispiele für Verwaltungskultur, lässt sich durchaus feststellen, dass die Eigenheiten sehr gute Gründe für ihre Verwendung haben – oder bei ihrer Einführung hatten. Viele der Beispiele haben sowohl positive als auch negative Seiten. So beschleunigen z.B. besondere Abkürzungen die Kommunikation, erfordern allerdings auch eine Eingewöhnungsphase, da die Bedeutung der Abkürzungen nicht immer aus den Buchstaben hervorgeht. Andere dieser Eigenheiten, wie z.B. die Einhaltung des offiziellen Dienstwegs oder die Farbenlehre sind gesetzlich oder in der Geschäftsordnung berechtigterweise verankert, und tragen zu einer effektiven Verwaltung bei. Aber auch hier können Unklarheiten entstehen, vor Allem wenn etwas mal schnell oder anders gehen soll.
Viele der Beispiele sind auf die eine oder andere Art Informationsverschleiernd, obwohl sie trotzdem positive Auswirkungen und Nutzen haben. Dennoch ist es nicht richtig, Verwaltungskultur als verschroben darzustellen – viele Ämter und Kommunen werden kaum von den oben genannten Beispielen gehört haben, oder sind kulturell und organisatorisch weit davon entfernt. In jedem Fall sollte abgewogen werden, ob die Vorteile auch die Nachteile wettmachen, und sich in jedem Fall der Auswirkung von Verwaltungskultur auf die Bedienbarkeit, Durchführbarkeit, Effizienz und Komplexität von Abläufen bewusst gemacht werden.
Wir durften während unserer Recherche ambitionierte Beschäftigte treffen, die immer wieder das Engagement aufgebracht haben, Prozesse und Vorgehen an angemessenen Stellen zu entschlacken. Frau Baumholz beschreibt es als “beinahen Kampf, den man jeden Tag austrägt”, und genau dieser Anspruch, Verwaltungskultur zu evaluieren und Veränderung zu schaffen, muss ein prägender Aspekt des Mindsets innerhalb der Verwaltung sein, damit der Mut gefunden werden kann, um die Entscheidung zu fällen: “Was macht Sinn, und was kann weg?”