Viele deutsche Kommunen und Verwaltungen stehen vor der Digitalisierung wie vor einer Herkulesaufgabe. Es gilt, IT-Kompetenzen in den Ämtern vor Ort aufzubauen, Systeme zu erneuern und Prozesse umzudenken. Ein Konzept vieler Bundesländer, um die Transformation zu beschwingen, ist es, sogenannte Digitallotsen auszubilden und als Multiplikator:innen für die Veränderung einzusetzen. Voraussetzungen für die Digitallotsen sollen lediglich eine digitale Affinität und intrinsische Motivation sein – mehr gibt es nicht. Um zu testen, wie erfolgreich das Konzept der Digitallotsen ist, haben wir die Ansätze in verschiedenen Bundesländern untersucht und Gespräche mit Expert:innen geführt, um hinter die Kulissen dieses vielversprechenden Ansatzes zu blicken.
Diese Expert:innen sind Stella Grießmayer, Leiterin Stabsstelle Digitalisierung des Städtetages Baden-Württemberg, die das Qualifizierungsprogramm “Kommunale Digitallotsen” unter dem Dach der Digitalakademie@bw seit 2018 betreut. Wir haben Clemens Frey befragt, Sachgebietsleitung Digitalisierung & Zentrale Services aus dem Landratsamt Ortenaukreis, welches mittlerweile über 45 Digitallotsen beschäftigt, sowie Frank Lichnok vom Projekt Digital-Lotsen-Sachsen des Sächsischen Städte- und Gemeindetages. Wir sprachen zudem auch mit Thomas Spieker, CDO der Stadt Ahaus. Er steuert das Vorhaben einer ganzheitlichen Digitalisierungsstrategie in Ahaus seit 2019 und arbeitet mit über 25 Digitallotsen im Rathaus zusammen.
Mit einer Strategie an vielen Stellen vorankommen?
Das Konzept der Digitallotsen verspricht, an vielen Stellen der Kommune weiterhelfen zu können, Prozesse und Projekte in der Verwaltungsdigitalisierung zu initiieren und zu begleiten. Digitallotsen sind Menschen, die sich aus Begeisterung mit digitalen Themen befassen und sich in die Rolle des Lotsen begeben. Sie werden qualifiziert, um als Impulsgeber:innen die digitale Transformation von Verwaltungsprozessen anzustoßen und Projekte zu beschleunigen. “Ziel ist es, dass sich das ‘Digitalisierungsvirus’ überall verbreitet und dass es ansteckend ist”, so Stella Grießmayer. Aber wie helfen Digitallotsen konkret, um die Digitalisierung in Verwaltungen voranzutreiben?
Eigene digitale Strategie: Vielen Kommunen fehlt es aktuell an einer digitalen Agenda, weil das Tagesgeschäft nicht wartet und das notwendige Personal nicht vorhanden ist. Digitallotsen, (in Sachsen Digitalnavigatoren genannt), werden in einer Basisqualifizierung befähigt, eine eigene digitale Agenda zu entwickeln, wie uns Stella Grießmayer und Frank Lichnok berichten. Von der ein- bis mehrwöchigen Basisqualifizierung zurück in der Verwaltung angekommen, sind es die Lotsen (bzw. Navigatoren), die aktiv zusammen mit ihrer Behördenleitung steuern, wo es die nächsten Jahre hingeht.
Bessere Kommunikation: “Lotsen helfen dabei, eine ganzheitliche Sichtweise zu entwickeln und zu erkennen, dass die Digitalisierung über die Grenzen der einzelnen Ämter hinausgeht.”, erzählt uns Clemens Frey. Im Landratsamt des Ortenaukreises werden Digitallotsen speziell gebrieft, um Ideen und Themen in Sachgebiete und Ämter zu transportieren, um so Best Practices weiter zu verbreiten. Ebenfalls können die Lotsen recht informell Herausforderungen an das Digitalisierungsteam kommunizieren. “Für die Amtsleitungen sind die Digitallotsen auf jeden Fall informationsbeschaffend,” so Frey.
Verbreitung erfolgreicher Lösungen: Die digitalen Lotsen (und Navigatoren) helfen durch Vernetzung und interkommunalen Austausch, erfolgreiche Digitalisierungsansätze offen zugänglich zu machen und so den Kolleg:innen vor Ort zu zeigen, dass und wie Veränderung positiv gestaltet wird. In Sachsen ist bereits rund ein Drittel der Kommunen beim Digitalnavigatoren-Programm an Bord. “Wir konzentrieren uns jetzt darauf, dass die Kollegen gut ins Arbeiten kommen, gute Lösungen für ihre Kommunen schaffen, die wir bewerben und bekannt machen, um zu sagen: schaut her, es funktioniert!”, so Frank Lichnok.
Zusammenarbeit und Vernetzung: “In Baden-Württemberg gibt es eigentlich keine Kommune mehr, die das Programm nicht kennt oder umsetzt”, erzählt uns Stella Grießmayer. “Bei uns sind mittlerweile über 1.000 digitale Lotsen und Lotsinnen vernetzt.” Heidelberg und Pforzheim seien Beispiele dafür, wie alle Ebenen in einer Verwaltung gemeinsam an Digitalisierung arbeiten. Diese Städte haben in jedem Bereich ihrer Verwaltung Digitallotsen, die ämterübergreifend Vernetzen und gemeinsame Projekte vorantreiben.
Lichterketten statt Leuchttürme fördern
“Es geht darum, zu lernen, wie die digitale Strategie vom Land aussieht und wie die Lotsen zu einer eigenen digitalen Strategie kommen”, erzählt uns Stella Grießmayer zur Qualifizierung in Baden-Württemberg. Die Lotsen lernen in drei Tagen Basisqualifikation, Ziele für die eigene Kommune zu setzen und wie die Ziele erreicht werden. Hierfür wird ein vielseitiges Inhaltsprogramm zu unterschiedlichen Themen der Digitalisierung vermittelt, die in der Kommunalverwaltung wichtig sind. Die langfristige und nachhaltige Wirkung des Programms wird darüber hinaus über Vernetzungstreffen und Angebote der Digitalakademie@bw sichergestellt.
In Sachsen fasst Frank Lichnok bündig zusammen, worum es bei den Digitallotsen eigentlich geht: Anstelle von vereinzelten, großen “Leuchtturmprojekten” setzen Digitallotsen auf einen lokalen Ansatz, bei dem jede Kommune in der Entwicklung einer eigenen Strategie, mit eigenen Projekten und eigenen Zielen befähigt wird.
Um diese Vision umzusetzen, werden die sächsischen Lotsen – bzw. dort Navigatoren genannt – vom Team der Digital-Lotsen-Sachsen als übergreifende Projektgruppe im sächsischen Städte- und Gemeindetag begleitet und darin unterstützt, ihre Kommunen zukunftsfähig auszurichten. In einer drei Monate umfassenden Basis-Befähigung wird den angehenden Navigator:innen zentrales Grundwissen sowie zahlreiche Best-Practice-Ansätze zum Nachahmen vermittelt. Aus den drei Monaten kommen die Navigator:innen mit einem Entwurf einer digitalen Agenda für ihre Kommune zurück – und sogar mehr: Sie haben im Programm gleich mehrere Projekte entwickelt, mit denen sie sofort loslegen können.
Erfolge der Lotsen aus der Praxis:
Ein Beispiel eines erfolgreich von einem Digital-Navigator eingeführten Prozesses findet man auf den Seiten des sächsischen Städte – und Gemeindetages. David Hermann ist Digital-Navigator in der Stadt Meißen und führte den Prozess, Strafzettel über einen QR-Code bequem und einfach zu bezahlen, selbst ein. Hier ist auch die Zahlung per ePayBL problemlos möglich.
Gute Praxisbeispiele, wie man das Konzept ganzheitlich integriert, sind die Städte Pforzheim und Heidelberg, die in jedem Bereich Digitallotsen beschäftigen. In Heidelberg sind die Digitallotsen beispielsweise an der Entwicklung eines visuellen Bürgerportals beteiligt, wo alle Services und Informationen der Stadt auf einen Blick abrufbar sein werden. #Thomas Spieker aus Ahaus erzählt uns, dass die Digitallotsen im Rathaus der Stadt den Kulturwandel vorantreiben, weil sie für digitale Transformationen und Innovation stehen. “Eigentlich sollten wir alle Digitallotsen werden oder alle Digitallotsen ausbilden.” Die Ahauser Lotsen geben anderen Kolleg:innen Hilfe und nutzen ihre Expertise aus den einzelnen Bereichen, um sie in digitale Prozesse einzubringen. Sie geben als Betroffene Feedback zu Prozessen und seien ein gutes Netzwerk im Haus, auch um aufzuspüren, wo aktuell der größte Handlungsdruck besteht. Gemeinsam mit den Digitallotsen werden Fortbildungskonzepte entwickelt: Workshops, Videos, Tutorials und Schulungen der Führungskräfte.
Laut einer Umfrage von 2022, wo es um die Vernetzung der Digitallotsen mit anderen Ämtern in Baden-Württemberg geht, sind über 40% der digitalen Lotsen anerkannte Ansprechpartner:innen für Digitalisierung. Knapp 30% haben in ämterübergreifenden Projekten mitgearbeitet. Kommunen, die erst seit kurzem am Programm teilnehmen, lernen vom Zugang zu Best-Practice-Projekten und Netzwerktreffen, zum Beispiel dem Digi-Lunch.
Tipps für Kommunen, die sich für das Programm interessieren
Interessant für kleinere Kommunen: Für Kommunen mit wenig Personal hat sich, wie uns Stella Grießmayer erzählt, interkommunale Zusammenarbeit als Lösung herauskristallisiert. Seitdem das Programm in Baden-Württemberg immer mehr Anklang findet, gibt es auch immer mehr Austausch. Es gibt Fälle, in denen der Digitallotse vom Nachbarort genutzt wird, um mehr digitale Kompetenz zu bilden. Seit 2022 gibt es zusätzlich Unterstützung durch Inhouse-Schulungen für mehr Zusammenarbeit von Kommunen.
Kosten der Grundausbildung: In Baden-Württemberg wurde die Ausbildung zu 50 % vom Land und zu 50 % von den Kommunen selbst getragen. Seit dem 01.04.2023 tragen die Kommunen die Ausbildungskosten komplett, weil das Land sich nach der erfolgreichen Anschubfinanzierung zurückgezogen hat. In Sachsen wird das Programm im aktuellen Doppelhaushalt finanziert. Dies ermöglicht jeder Kommune kostenfrei, am Programm teilzunehmen.
Quantität ist nicht gleich Qualität: Clemens Frey vom Ortenaukreis teilte uns mit, dass das Landratsamt mit zwölf Lotsen gestartet ist und so einen informellen, besseren Austausch zum Thema Digitalisierung hatte: “Wir sind viel näher dran an den Herausforderungen der Ämter durch die Digitallotsen. Ich bekomme viel kreativen Input […]. „Der Austausch in der kleineren Gruppe erwies sich jedoch als konstruktiver im Vergleich zur jetzigen Größe.”
Förderung: Es geht um den ganzheitlichen Prozess der Digitalisierung, der sehr dynamisch ist. Methoden und Techniken ändern sich schnell. Damit es erfolgreich wird, werden die Lotsen bzw. Navigatoren von den kommunalen Landesträgern, zum Beispiel vom Städtetag BW und den Digital-Lotsen-Sachsen, fortlaufend unterstützt, fortgebildet, vernetzt und auf dem Laufenden gehalten.
Fazit zum Konzept Digitallotsen
Die Strategie der Digitallotsen wird in mehreren Bundesländern bereits umgesetzt und verspricht nachhaltigen Erfolg als Baustein, die digitalen Strategien der Bundesländer in ihren Kommunen voranzubringen. Kommunen haben die Chance, sich eine eigene digitale Agenda zu erarbeiten, sodass sie souverän und eigenständig für die Zukunft ausgerichtet sind, und mit den ersten Projekten gleich loslegen können. Die Digitallotsen bringen Erfahrungen und Wissen durch Vernetzung und Schulung in ihre Ämter, sodass Kolleg:innen von ihnen lernen und alle gemeinsam Innovationen auf den Weg bringen können. Überzeugung und Unterstützung wird erreicht, indem die Digitallotsen Ideen und Erfolgsgeschichten aus anderen Kommunen, Ämtern oder den Vernetzungstreffen in der eigenen Verwaltung verbreiten und unterstützen. Ob das Konzept letztendlich erfolgreich ist, hängt davon ab, ob die Kandidat:innen in ihrer zusätzlichen Rolle als Lotse genug Gehör und Anerkennung finden, sowie ob sie am Ball bleiben, auch wenn Widerstände da sind. Trotz der großen Menge an Projekten, die deutschlandweit von Digitallotsen angegangen werden, sind wir in unseren Recherchen auf nur wenige online-zugängliche Erfolgsbeispiele gestoßen. Dies verdeutlicht die Relevanz, die eigenen Erfolge auch als solche zu kommunizieren und darzustellen, damit hilfreiche Ansätze, Strategien und Konzepte auch die Bekanntheit und Überzeugung finden können, die sie verdienen.
WEITERFÜHRENDE LINKS
Inhalte der Basis-Qualifikation in Baden-Württemberg
Digital-Lotsen-Sachsen Programm: Worum geht es?
Thomas Spieker im Interview
Digitallotsen im Ortenaukreis
Interview mit der Bürgermeisterin der Stadt Ahaus