Die Bauprinzipien der deutschen Verwaltung

Wie die Prinzipien von gestern uns helfen, morgen besser zu gestalten.

Best-Practice, Praxistipps, Strategisch

16. November 2023

Joel Pfleger & Finnigan Lutz

Bei mehr als 40 Interviews mit Expert:innen aus der öffentlichen Verwaltung sahen wir uns immer wieder mit drei organisatorischen Prinzipien konfrontiert, die zwar weitgehend unbekannt sind, aber den deutschen Verwaltungsapparat tief beeinflussen. Mittels dieser Prinzipien lässt sich nicht nur hinter die Kulissen Deutschlands in der Neuzeit blicken, vielmehr bergen sie auch den Schlüssel, um handlungsfähige, starke Strukturen, Organisationen und Teams zu schaffen. Wir haben es uns deshalb zum Ziel gesetzt, im Folgenden das Subsidiaritätsprinzip, das Konnexitätsprinzip und das Kongruenzprinzip näher zu durchleuchten und ihre Wirkungsmechanismen verständlich  ans Tageslicht zu bringen:

  • Das Subsidiaritätsprinzip. Unter dem sogenannten Subsidiaritätsprinzip versteht man, dass die Verantwortung für eine Aufgabe immer vorerst der tiefsten hierarchischen Ebene zufallen sollte. Im Falle der deutschen Verwaltung bedeutet dies, dass den Gemeinden  die Möglichkeit gegeben werden muss, alle lokal relevanten Angelegenheiten (Örtlichkeitsprinzip) selbstständig zu lösen,  die nicht anderweitig durch Bundes- oder Landesgesetze geregelt sind. Hiermit soll den Gemeinden die eigenständige Handlungsfähigkeit der kommunalen Verwaltungen gewährleistet werden. Im Hinblick auf die Herausforderungen der Digitalisierung führt dieses Prinzip jedoch auch dazu, dass in Deutschland viele Entwicklungen tausendfach auf unteren Ebenen dupliziert werden, die an einer zentralen Stelle effizienter geregelt werden könnten. Beispielsweise müssen sich fast alle kommunalen Verwaltungen eigenständig um die digitale Infrastruktur für ihren Webauftritt kümmern.

  • Das Konnexitätsprinzip. Allgemein verknüpft dieses Prinzip die Aufgaben- und Finanzverantwortung.  Es bedeutet somit, dass bei der Weiterreichung einer Aufgabe an eine darunter liegende Ebene, die finanziellen Rahmenbedingungen von der oberen Ebene gestellt werden müssen, die für die Lösung der Aufgabe notwendig sind. Durch diesen Mechanismus ist es jedoch auch möglich, mit der Abgabe von finanziellen Mitteln auch die Verantwortung für eine Aufgabe auf eine untere Ebene abzugeben. Ein Beispiel hierfür kann bei der Beschaffung von Tablets für Schulen beobachtet werden, da die Durchführung der Aufgabe von den Kommunen übernommen wird, die Kosten aber weitestgehend auf Länderebene getragen werden, da diese die hierfür notwendigen Mittel bereitstellen müssen. Es gibt verschiedene Arten von Konnexität, und muss erwähnt werden, dass in der Praxis nicht immer die finanziellen Rahmenbedingungen gestellt werden, wenn Aufgaben nach unten abgegeben werden.

  • Das Kongruenzprinzip. Als Letztes dieser Prinzipien wird das Kongruenzprinzip erläutert, welches besagt, dass Entscheidungstragende sowohl mit den notwendigen Befugnissen (Aufgaben) und Ressourcen (Kompetenzen) für die Erfüllung einer Aufgabe ausgestattet sein müssen, als auch die Verantwortung für die Ergebnisse tragen müssen, damit Aufgaben bestmöglich erfüllt werden können. Es geht somit mehr um die strukturellen Grundvoraussetzungen, die gegeben sein müssen, damit Aufgaben zielorientiert gelöst werden können, als um institutionelle Strukturen. Ist das Kongruenzprinzip nicht gegeben, oder sind einzelne Bestandteile des Trios “Aufgaben, Kompetenzen, Verantwortung” auf externe Akteure ausgelagert, sind die strukturellen Voraussetzungen zur bestmöglichen Erfüllung der Aufgabe nicht mehr gegeben.

Obwohl diese Bauprinzipien für den normalen Bürger unsichtbar erscheinen, lassen sich ihre Auswirkungen in den Strukturen fast aller Organisationen und Institutionen, und insbesondere innerhalb des deutschen Staates erkennen. Während das Subsidiaritätsprinzip und das Konnexitätsprinzip eher institutionell in Bundes- und Landesgesetzgebung verankert sind (z.B. §28 GG Abs. 2), kann das Kongruenzprinzip eher als genereller Erfolgsprädikator mit höheren praktischen Implikationen verstanden werden. Auch wenn es offensichtlich erscheint, Teams und Entscheidungstragende mit den notwendigen Aufgaben, Kompetenzen und Verantwortlichkeiten auszustatten, ergeben sich in der Praxis in großen Systemen – und besonders in Verbindung mit den anderen Prinzipien – oft Schwierigkeiten.

Einsatz der Prinzipien in der Praxis

Aus den Prinzipien lassen sich klare praktische Implikationen herausziehen – und dennoch hakt es an der Umsetzung. Auch nur die drei Grundvoraussetzungen des Kongruenzprinzips (Aufgaben, Kompetenzen und Verantwortung) auf jeder Ebene in Einklang zu bringen, scheint schier unmöglich. Als Beispiel: wenn eine Aufgabe gemäß dem Subsidiaritätsprinzip auf einer unteren Ebene gelöst werden soll, diese Ebene jedoch nicht die Verantwortung für die Endergebnisse trägt, wird es schwierig, den erfolgreichen Abschluss der Aufgabe zu gewährleisten – sogar wenn die notwendigen Finanzmittel vorhanden sind.

Gerade im Hinblick auf die deutsche Verwaltung ist ein solcher mangelnder Einklang der Prinzipien problematisch, da es durch zunehmende Mehrausgaben an kommunale IT-Dienstleister und an die Privatwirtschaft leicht passieren kann, eine Kernkompetenz oder Verantwortung nach außen abzutreten. Da man bei gewissen Einzelthemen nunmal auf externe Akteure und Fachkräfte angewiesen ist, muss bei der Externalisierung von Aufgaben genau darauf geachtet werden, was konkret nach Außen abgegeben wird, und welche langfristigen Folgen dies birgt. Bei der Erschaffung von neuen Teams und Arbeitseinheiten sollte stets das Kongruenzprinzip und damit der Einklang von Aufgaben, Kompetenzen und Verantwortung im Auge behalten werden.

Ohne bei den vielen möglichen Szenarien in die Tiefe zu gehen, was durch welche Konstellation der Prinzipien alles schief (oder richtig) gehen kann, lässt sich über die Prinzipien vereinfachend sagen: Jedes Prinzip hat seinen Nutzen und seine Kosten, und somit je eine positive als auch negative Auslegung. Für die Subsidiarität entsteht langfristig ein eher dezentrales Regierungssystem, welches auf vielen Ebenen robust und handlungsfähig ist und sich eigenständig verwalten kann. Der Preis ist jedoch ein Gesamtkonstrukt, welches von der Eigenleistung aller Einzelteile lebt, und sich oft nur im koordinierten Gleichschritt bewegen kann. Dieser Kontrast ist besonders im Vergleich zwischen föderalen Staaten (wie Deutschland) und Zentralstaaten (wie Frankreich und England) zu sehen.

Das Konnexitätsprinzip hat ebenso sein Für und Wider. Einerseits ist der finanzielle Rahmen für Aufgaben (zumindest in der Theorie) stets gesichert, auf der anderen Seite wird es möglich, mit der Abgabe von Finanzmitteln an eine untere Ebene ebenso die Verantwortung abzugeben, um sich schuldlos zu machen. Auch das letzte Prinzip der Kongruenz ist keine Ausnahme: Es verspricht eine optimale Durchführung vieler Aufgaben, verlangt jedoch genau die richtige Mischung von Aufgaben, Kompetenzen und Verantwortlichkeiten, welche in der Praxis nur schwer herbeizuführen ist. Wie also sollen die Prinzipien verwendet werden, um aus ihnen das meiste herauszuholen und die Schattenseiten zu vermeiden?

Die Prinzipien auf dem Prüfstand

Eine moderne Auslegung des Subsidiaritätsprinzips ist unverzichtbar, wenn Deutschland im Rennen der digitalen Staaten mithalten will. Trotz der vielen Vorteile von dezentralen, föderalistischen Strukturen, welche ein Wahrzeichen der deutschen Verwaltungs- und Systemlandschaft sind, kann es nicht zukunftsfähig sein, Entwicklungen tausendfach auf kommunaler Ebene durchzuführen. Aus diesem Grund werden bereits moderne Lösungen, wie zum Beispiel das EfA-Prinzip (Einer für Alle), gesucht und gefunden, um notwendige Digitalisierungsschritte im Einklang mit dem Grundgesetz zu verallgemeinern. 

Trotz der verpflichtenden Subsidiarität gibt es weiterhin Möglichkeiten, gewisse Bestandteile der IT-Strategie zentral bereitzustellen, und hierdurch Vorteile zu schaffen: Prozessbibliotheken, überregionale Wissensdatenbanken und Best-Practice Foren geben Kommunen, Kreisen und Städten Unterstützung, um ihre eigenen Lösungen entlang den Vorgaben von etablierten Standards zu gestalten. Obendrauf dienen diese Lösungen oft als Plattform für den Austausch und Wissenstransfer und fördern die wertvolle Vernetzung von Kommunen untereinander. Neben dem EfA-Prinzip ist hier auch der FIT-Store der FITKO (Föderale IT- Kooperation) zu nennen, in welchem Bundesländer bereits digitalisierte Verwaltungsleistungen für andere Bundesländer anbieten können. 

Um das Kongruenzprinzip bestmöglich zu nutzen, sollten anfallende Aufgaben und Probleme auf den Ebenen gelöst werden, die am ehesten die Kompetenzen und Ressourcen für ihre Erledigung besitzen, sowie welche die schlussendliche Verantwortung für die Ergebnisse tragen. Bezüglich dem Konnexitätsprinzip ist es zudem ratsam, sich nicht immer der Finanz- und Aufgabenverknüpfung zu bedienen, um Aufgaben nach unten abzugeben, sondern davor stets die beste Ebene für die Aufgabe zu lokalisieren. Auch wenn die  Finanz- und Aufgabenverknüpfung teilweise vorteilhaft für Kommunen sein kann, kann sie in vielen Fällen zu einer Überlastung der Kommunen führen.

Fazit

Abschließend lässt sich anmerken, dass die drei organisatorischen Prinzipien eine wenig bekannte und doch unverkennbare Relevanz für die deutsche Verwaltung besitzen. Ihre Betrachtung kann aufgrund der komplexen Strukturen, welche die Realität vieler Verwaltungen und Organisationen prägen, zwar frustrierend und einschränkend wirken, es können sich jedoch durch die richtige Handhabung der Prinzipien große Vorteile ergeben. Durch ein Verständnis der Vor- und Nachteile der Prinzipien ist es möglich, Entscheidungen entlang den Bauprinzipien des deutschen Staates zu fällen – damit diese in einer komplexen Verwaltungslandschaft ihre volle Effektivität und Wirksamkeit entfalten können.

Unsere Empfehlung: Das Kongruenzprinzip bei der Erstellung von Ressorts, Teams und neuen Strukturen bei der Aufgaben- und Rollenzuweisung beachten. Konnexität nicht immer verwenden, wenn eine Verantwortungsabgabe möglich ist.

WEITERFÜHRENDE LINKS

Anwendungsbeispiel für das Kongruenzprinzip
Subsidiarität und Föderalismus im deutschen Staat

Weitere Artikel zu Best-Practice, Praxistipps, Strategisch...